Wenn ich freudestrahlend und mit stolzgeschwellter Brust berichte, dass meine Große nach sehr ausgedehnter Kindheit inzwischen in einer wunderbaren Rheinmetropole was Anständiges lerne, ernte ich regelmäßig mitleidige Blicke. Ob ich denn bereits wisse, wie ich mit dem Empty Nest Syndrom umgehen werde, fragen aufgeklärte Zeitgenossen.
Ich kapiere das nicht. Ganz im Vertrauen sage ich offen und ehrlich: Ich hätte mein Nest ganz gern zu regelmäßigen Zeiten empty! Aber nix da. Es ist alles andere als leer, und wenn‘s das wär, hätte ich einen Kopf voll Ideen, was ich mit diesem utopischen Zustand anfangen könnte. Während der langen Phase Adoleszenz meiner Kinder habe ich aber zutiefst die Erkenntnis verinnerlicht, dass sie niemals dort sind, wo man sie sucht, vermutet oder gern hätte. „Sicher ist, dass nichts sicher ist“, lautet ein hübscher Aphorismus, der ziemlich treffend die Planungssicherheit meines Alltags des letzten Jahrzehnts wiedergibt. Ich will nicht klagen, denn natürlich bin ich nichts lieber als für meine Sprösslinge da. Wenn das bloß ein bisschen verlässlicher planbar wäre…!
Okay, wenn man sie vermisst, sind sie verlässlich unterwegs. Aber wenn frau dringend ihre Ruhe benötigt und sich zur Sekunde mit heißem Kaffee und Schmöker auf dem Sofa niedergelassen hat: Wer klingelt an der Haustür, klopft bollernd ans Küchenfenster, sodass man fast vom Sitzmöbel fällt? Ihr habt es erraten.
Die Nichtabsehbarkeit der Befriedigung eigener Bedürfnisse ist also längst zum Alltag geworden. Sehen wir es positiv: Das trainiert Körper und Geist, hält in Schwung und ist damit eine verlässliche Demenz-Prophylaxe. Und geistige Spannkraft ist nun einmal das A und O, wenn die random-mäßig ins Nest Einkehrenden spannende Themen, praktische Herausforderungen und einen modernen Sprachgebrauch ins Haus bringen. Und zwar immer genau dann, wenn du es nicht erwartest. Überraschung!
Vielleicht kann ich den Mangel an innerer Leere auch auf eines meiner speziellen Features zurück führen: Ich antizipiere. Das bedeutet, dass ich bevorstehende Ereignisse mit emotionalem Überwältigungspotenzial bereits weit vorher gefühlsmäßig durcharbeite. Das gilt für große Zahnarzteinsätze ebenso wie für Examens-Prüfungen, aber auch Geburten und drohendes Liebes-Aus. Wochen oder Monate vor dem Event erleide ich Angst und Schmerz, bin ekstatisch, in Sorge, trauere. Wenn das Ereignis da ist, bin ich emotional in einem krass trainierten Zustand. Und dann gehe ich, von außen betrachtet, einfach so da durch. Das macht es für mich nicht unbedingt leichter, hilft aber ungemein, es unbeschadet durchzustehen. So kam es, dass der Tag des Auszuges meiner Großen mich nicht so richtig umhauen konnte. Heiße Tränen hatte ich vor ihrer ersten langen Europa-Rundreise vergossen. Jetzt schleppte ich emsig Kisten und Kartons und ließ beherzt los.
Tja, und kaum war das Kind weg, war es auch schon wieder zu Besuch. Und so ist es jetzt im Nest. Bei unregelmäßigen Aufenthalten stapeln sich Wäscheberge, der Kühlschrank leert sich im Stundentakt. Die Abstände der Begegnungen werden größer, die Absprachen komplizierter, und wenn die Krise da ist, laufen verlässlich die virtuellen Drähte heiß. Kurzum, es herrscht weiterhin ein munteres Kommen und Gehen. Um bei all den ständigen Veränderungen und kribbeligen Aktivitäten um mich herum auch mal runter zu kommen, habe ich mir ein Ehrenamt zugelegt: Bereits in der zweiten Saison bin ich Wildhüterin, Abteilung Igel. Nun komme bitte niemand auf die Idee, sich ein putziges Stacheltier einfach irgendwie zu besorgen! So geht das nicht! Legt euch ruhig mal auf die Lauer und folgt dem aufdringlichen Schnaufen, Schnarchen und Schmatzen, das sich nächtens draußen abspielt. Aber dann beherrscht euch! Nehmt den Stachelball keinesfalls auf, um ihn zu retten. Wenn ein Igel euch heran stapfen hört – und er HÖRT euch, seid sicher – formt er vor Schreck eine Kugel und schützt sich vor den wenigen Feinden, welche die Natur ihm entgegen stellt. Denkt er.
Leider weiß er nichts von der technischen Evolution und ist einzig aus diesem Grund bei seiner längst überholten Schutzreaktion geblieben, dem Stachelpanzer. Gegen Fuchs und Katze ist das total hilfreich. Nicht aber gegen Fahrzeuge mit massivem Gewicht und dicken Reifen. Wann immer ich auf dem Asphalt einen zur Zweidimensionalität gewalzten Igel entdecke, schicke ich ein Stoßgebet an unseren Schöpfer. Wenn es einer schafft, der tierischen Evolution etwas Beine zu machen, dann doch hoffentlich er. Höre ich da etwa ein lästerliches Höhnen im Hintergrund? Wenn es uns Menschen gelingt, Panzerfolien für Handys zu erschaffen, muss es per göttlicher Intervention doch wohl möglich sein, eine hochfrequente Mutation auszulösen?! Der Igel der Zukunft muss ein Panzerstachelkleid tragen, über das ein SUV mal eben drüber hoppeln kann. Bei den Stoßdämpfern merkt der Fahrer das nicht einmal. Bis dieses neue Feature serienmäßig wird, reduziert sich der Bestand der Stacheltiere weiter und wir müssen retten, die zu retten sind. Und genau da liegt der Knackpunkt, liebe Tierfreunde im Laienstand:
Einzig ausgewiesene Experten sind in der Lage zu entscheiden, ob ein Tier hilflos ist oder nicht. Das ist nicht einfach und daher sollten wir es wirklich mal schön ihnen überlassen. Wir Unwissenden dürfen niemals ein Wildtier „der Natur entnehmen“, das ist Gesetz! Wenn ein Tier gerettet ist, weil es krank, verletzt oder zu untergewichtig ist, um sicher den Winterschlaf zu überleben, dann dürft ihr euch anbieten. Dazu müsst ihr Einsatz zeigen, euch auf den Weg machen und vor allem unter Beweis stellen, dass ihr der ehrenvollen Aufgabe würdig und gewachsen seid. Nehmt Kontakt zu einem der Vereine zur Igelrettung auf, die zum Beispiel Fittiche e.V. heißen oder Pro Igel.de. Diese vermitteln euch an die zuständige örtliche Igelretterin.
Wenn der Große Tag gekommen ist, hockt ihr bei der engagierten Unter-Wildhüterin in der gemütlichen Küche am blanken Holztisch, auf der passenden und mit Schaffellen gepolsterten Bank. Sie übt einen helfenden Beruf aus, ist hier aber an der Dienststelle derzeit garantiert zu nichts zu gebrauchen, weil sie buchstäblich Tag und Nacht mit der Rettung von Igelkindern beschäftigt ist. Sie hat bereits erfolgreich mehrere dem Tode geweihte Jungtiere eigenhändig mit der Flasche, oder genauer gesagt, einer winzigen Pipette, großgezogen. Damit hat sie von den Ober-Wildhüterinnen automatisch die Weihe zur Igel-Verteilerin erhalten. Verteilt werden jugendliche Igel, Teenies quasi, die bereits aus dem Gröbsten raus sind, feste Nahrung aufnehmen können und somit beste Chancen haben, noch in dieser Saison den ersten Winterschlaf halten und überleben zu können. Das wiederum macht sie bereit fürs Frühjahr, wo sie im besten Falle als erwachsene Igel in Mutter Natur entlassen werden. Ich greife vor.
Erst einmal hocken wir Einsteiger hier auf der Holzbank. Die Ober-Wildhüterin hat irgendwo in Ostwestfalen Teenie-Igel in Pappkartons abgefüllt und ins Münsterland verfrachtet, wo sie nun auf ein Zuhause warten. Hier folgte eine wichtige Information für diejenigen unter euch, die sich von diesem kleinen Bericht bereits so angesprochen fühlen, dass sie selbst eine Karriere als Päppler erwägen. Dies ist der Fachbegriff für die erste Stufe der ehrenamtlichen Wildhüter-Zunft. Wie bei jedem Hobby besteht auch hier die Möglichkeit, neue Menschen kennen zu lernen. Stellt euch jetzt aber nicht vor, damit euren Horizont allzu sehr zu erweitern. Auch die anderen Pflegeeltern in spe üben helfende Berufe aus, genau wie ihr. Okay, einige wenige Paare aus dem Geldadel interessieren sich ebenfalls für die wohltätige Beschäftigung. Auch in der Jurisprudenz, dieser stark vernunftbetonten Branche, finden sich Einzelne, die ein Herz für Tiere zeigen. Aber wenn ihr hofft, hier Kontakte zu knüpfen, die euch in der Warteschlange beim Elektriker nach vorn bringen, vergesst es. Ich weiß nicht, welchem Wildtier dieses Handwerk zuneigt, der Igel ist es jedenfalls nicht. Wenn ihr jetzt noch bleiben möchtet, aufgepasst: In einem intensiven audiovisuellen Fachvortrag erhaltet ihr jetzt alles notwendige Basiswissen über des Igels Spezies und ihre Stellung im Tierreich, den Biorhythmus, ihre geschlechtsspezifische Entwicklung sowie ihr Beuteschema. Ein Schwerpunkt, inklusive praktischer Demonstration am Probeexemplar, liegt auf der Praxis des behutsamen Wiegens unter Beachtung grundlegender Parameter zur Gesundheitsprüfung. Während der Demonstration brechen alle Anwesenden in hysterisches Kreischen aus: „Süüüüß!“ Das Igelkind runzelt genervt die Brauen und zieht das komplette Stachelkleid hinterher. Voilà, der Igel ist ein Igelball und hat seine Ruh. Nun sind alle peinlich berührt und lassen Stille walten, während die kecke sogenannte Handaufzucht Bärbel ihr Gewicht von immerhin schon 350 Gramm präsentiert. Nun seid ihr schon fast zu geprüften Päpplern ausgebildet. Ihr müsst natürlich eine artgerechte Unterbringung für das Pflegetier geloben, ebensolches Futter bereit stellen, die offizielle Päppel-Liste der Aufzucht-Station weiterführen und vieles mehr. Das hier auszuführen würde euch nur überfordern. Ihr könnt das in Ruhe auf den Homepages der Vereine zur Igelrettung nachgucken. Wichtig ist: Am Ende steht der erste Stern auf den Schulterklappen in der Hierarchie der städtischen Wildhüter. Herzlichen Glückwunsch! Am Ende der Veranstaltung steht die feierliche Aushändigung der raschelnden Kartons, die inzwischen einen recht strengen Geruch verströmen. Es ist halt Abend. Die nachtaktiven jungen Wilden erwachen und „müssen“ erst einmal. Das riecht. Das muss man wollen. Wir wollen.
Unerwarteter Weise dürfen die frisch ernannten Päppler nun selbst entscheiden, welches Igelchen ihr Ziehkind werden soll. Alle wollen Bärbel. Die ist aber nicht zu haben, denn sie muss noch allerlei Behandlungen und Spezialfutter bekommen. Sie bleibt in fachlicher Obhut. Von der leichten Trance des Fachvortrages und der Aufregung während der Demonstration am lebenden Subjekt schalte ich mal besser wieder auf fokussierten Aufmerksamkeitsmodus. Nur an Hand einer krakeligen Kartonaufschrift, nach dem Namen, den gestresste Ersthelfer im Affekt verteilt haben, unbesehen eine tragfähige Pflegebeziehung zu antizipieren, ist nicht so einfach.
Ich lasse die Klänge auf mich wirken. „Cora, 430 Gramm“ klingt ganz nett. Die Heilpraktikerin mit den zwei kleinen Kindern ist schneller. Sie muss nach Hause, der aufgeregte Nachwuchs reibt sich schon die Augen. Das geht klar. Die Kleinfamilie macht sich mit dem müffelnden und unten leicht aufgeweichten Karton schleunigst auf den Weg. Die anderen sechs Kandidatinnen warten gespannt. „Roter Strich, männlich, 460 Gramm“ ist für alle Anwesenden erklärungsbedürftig. Unsere Vorgesetzte erläutert, dass in den Aufzuchtstationen vor lauter Andrang die Tiere manchmal per Lackierung der Stacheln gekennzeichnet werden. Dann heißen sie bei der Weitergabe „Blauer Punkt“ oder eben auch „Roter Strich“. Bis ich das verdaut habe, hat die Sozialarbeiterin der örtlichen Sekundarschule sich bereits für die 460 Gramm Männlichkeit entschieden. Es folgt „Madenbaby, 400 Gramm“. Die eben noch glänzenden Blicke senken sich. Man lächelt unverbindlich oder schnäuzt sich die Nase. Die Wildtier-Verteilerin versucht scherzend klar zu machen, dass der Befall mit Fliegenmaden natürlich längst ausgeheilt und das Tier wie alle anderen bei der Vermittlung kerngesund sei. Die Zurückhaltung lässt sich dadurch nicht ganz abbauen. Die Chefin stellt „Madenbaby“ zurück und bietet „Mandy, 480 Gramm“ an. Der Staatsanwalt im Ruhestand und seine Frau sind unabgesprochen die Schnellsten. Bei „Karlsson, 370 Gramm“ zögern die anderen lange genug, dass ich zuschlagen kann. Die waren bestimmt von dem geringen Gewicht abgeschreckt. Ich werde doch Frau genug sein, den kleinen Kerl noch auf sein überlebenswichtiges Wintergewicht von mindestens 700 Gramm zu päppeln! Schwierigkeiten kenne ich nicht, nur Herausforderungen! Die weitere Verteilung bekomme ich gar nicht mit. Mein Herz klopft. Ich fühle mich ein bisschen wie damals mit acht Jahren, als wir unseren Dackelmischling beim Bauern abgeholt haben. Ich wusste im Gewusel von acht Geschwistern sofort, dass wir und nur wir zueinander gehörten. Die Pflegeverhältnisse sind jetzt geklärt. Madenbaby hat leider kein neues Zuhause gefunden. Es bleibt bei der Hausherrin, die ohnehin bereits mehrere Gehege in ihrem Garten und auf dem Balkon erbaut hat. Bei ihr kommt es auf einen Igel mehr oder weniger eh nicht mehr an. Wir bekommen nun nacheinander die Kartons unserer Pfleglinge ausgehändigt, verabschieden uns eilig und machen uns mit unseren Überraschungspaketen auf den Heimweg.
In seinem neuen Zuhause angekommen, verlässt Karlsson sein pipigetränktes Reisehäuschen fröhlich. Zum Ankommen setze ich ihn in einen großen Karton mit hoher Wand, der mit Laub und Zeitungspapier befüllt ist wie geheißen. Der Kleine nimmt von seiner neuen Pflegemama komplett keine Notiz, sondern stinkt geschäftig vor sich hin. Er beschmatzt und bespeichelt mit abenteuerlichen Verrenkungen, auf die unsere Katze selig neidisch gewesen wäre, zuerst sich selbst und dann das um ihn ausgebreitete Laub. Dieses rätselhafte arttypische Verhalten sieht unfassbar witzig und niedlich aus. Die auf den Plan gerufenen Kinder sind entzückt, bewundern die Knopfaugen, die Pfötchen, die weißen Zähnchen und die rosa Zunge, machen ein paar Fotos für ihre sozialen Netzwerke und sind dann wieder weg. Ich setze den Igel in sein artgerechtes Außengehege. Er fühlt sich super an. Der Bauch ist wunderbar flauschig und warm. Letzteres ist ein wichtiges Zeichen für den einwandfreien Gesundheitszustand meines Ziehsohnes. Heroisch verkneife ich mir jegliche Zärtlichkeit, gebe ihm nur ein paar liebevolle Worte mit in die Dunkelheit der Nacht und schütte das frisch beschmatzte Laub hinterher. Karlsson ist das egal, er ist schon wieder unterwegs und kümmert sich um die Inbesitznahme von Zweigen, weiterem Laub und dem artgerechten Holzhäuschen zum Einigeln. Leicht aufgeregt bereite ich ihm die erste Mahlzeit.
Eine Woche später. Ich glaube, Karlsson hat mich ein wenig ins Herz geschlossen. Ich ihn auch. Liebe geht durch den Magen. Er findet, ich koche gut. Ich bewundere seinen coolen Look. Wir haben unsere Lebensrhythmen synchronisiert: Mein Part ist die verlässliche Bewirtung in der Abenddämmerung, er steht dafür pünktlich auf. Wir lernen voneinander. Zwar habe ich noch nicht ergründen können, wieso Igel so stinken, obwohl sie eine so gute Nase haben. Aber ich selbst habe bereits Fortschritte im Aufnehmen von Witterung gemacht. Ich muss nur in die innere sogenannte Haltung des Igels gehen, schon schärft sich mein Geruchssinn aufs Feinste. Gestern wusste ich bereits im Foyer unseres Arbeitsplatzes, dass meine Kollegin wieder einmal heimlich ein Igelbaby in der Aktentasche hatte. Ernas Mahlzeiten liegen noch nicht weit genug auseinander, um einen Arbeitstag zu überstehen. Unser Chef liefert alte Zeitungen als Pipiunterlagen für Erna. Das sind natürlich streng vertrauliche Interna. Zurück zu Karlsson. Ein bisschen größer ist er schon geworden. Heute ist Mittwoch – Wiegetag. Ich bin ziemlich aufgeregt. Er nicht. Völlig gelassen lässt er sich in die Plastikschüssel setzen und macht sich über das Futter her, das ich ihm zur Beruhigung bereit gestellt habe. Mich beruhigt das ungemein. Noch mehr beruhigt mich die Anzeige der Waage: 460 Gramm!
Unsere Teamarbeit ist perfekt. Ich versorge, er gedeiht. Ich bin total stolz. Mit einem unhaltbaren Vorurteil gegenüber den stacheligen Säugern möchte ich hier übrigens ganz nebenbei mal aufräumen. Es wird landläufig geredet, Igel nähmen es nicht so genau damit, Nahrungsaufnahme und Ausscheidung zu trennen, Wildtiere halt. Es gehe drunter und drüber und der Mensch müsse für die Hygiene sorgen um Erkrankungen vorzubeugen. Ich hingegen kann empirisch nachweisen, dass Igel sich sehr genau überlegen, wohin sie machen. Und dahin machen sie dann. Wenn wir also den Hotspot mit Zeitungspapier auslegen, ist die regelmäßige Kloreinigung kinderleicht. Niemand kann mir weismachen, dass die Vorliebe für ein stilles Örtchen reine Menschensache wäre.
Zwei Monate später. Karlsson ist ein beleibter junger Herr. Er hat sein Häuschen fachgerecht bis zum Bersten mit Laub vollgestopft. Draußen wird es kälter, er wird langsamer. Mit 770 Gramm Körpergewicht ist er bereit. Der Frost kann kommen.
Zwei Wochen später. Karlsson schläft.
Über drei Monate später. Der Frühling naht, die Nächte werden wärmer. Kein Lebenszeichen von Karlsson. Ich stelle ihm abends Futter hin, das ich morgens unberührt und eingetrocknet entsorge. Apropos Sorge. Ob er doch zu dünn war, um die Monate zu überstehen? Am nächsten Morgen ist das Futter halb aufgefressen! Entweder hat sich ein fremdes Wildtier Zutritt verschafft oder Karlsson hat es geschafft! Ich bin total aufgeregt. Abends lege ich mich in der Dämmerung auf die Lauer, stelle ihm sein Lieblingsessen bereit. Sehr langsam, wie in Zeitlupe, kommt ein alter fremder Igel aus dem Häuschen. Auf dem Marsch zum Futter wird er wieder jung und hübsch. Mein Karlsson! Den Rest schaffen wir jetzt auch noch, verspreche ich ihm. Er ignoriert mich völlig, aber mein Essen schmeckt ihm immer noch. Gottseidank!
Drei Wochen später. Wir konnten doch ein wenig an die alte Vertrautheit anknüpfen. Der abgezehrte Erwachsene hat jetzt wieder sein behäbiges Kampfgewicht. Er wird immer flotter und stinkt für zwei. Wenn ich ihn füttere, höre ich immer häufiger ein Rascheln und Grunzen im Garten. Die Kollegen sind wohl auch aufgestanden. Ich öffne Karlssons Gehege und entlasse ihn in die Natur unseres unordentlichen Gartens. Er wirft keinen Blick zurück und zieht in die weite Welt hinein.
Zwei Wochen später. Wir haben doch noch einige Tage lang sehnsüchtig aufeinander gewartet. Karlsson kam aus der Freiheit nächtens ab und zu in sein Gehege zurück und futterte, was ich ihm als Übergangs-Ration bereit gestellt hatte. Vorgestern habe ich ihn unterm Kirschlorbeer schnaufen hören. Als ich auf dem Bauch liegend nach ihm schaute, hat er mir zugeblinzelt. Heute morgen war sein Futter unberührt. Jetzt ist er ein wilder Igel.
Ein Jahr später. Tja, und ich hatte ganz naiv gedacht, Igel sei Igel. Doch Ingeborg ist Ingeborg, Wildtier hin oder her. Schon die erste Erkundung ihres Geheges lief völlig anders als bei ihrem Artgenossen. Statt sich auf die leckere bereitgestellte Mahlzeit zu stürzen, nahm sie mit zielstrebigem Schritt beide verfügbaren Behausungen in Augenschein, entschied sich binnen Sekunden für die größere Wohnung und begann schnurstracks mit der Inneneinrichtung. Wow. Am nächsten Morgen war das Futter restlos verzehrt und der kleinere Unterschlupf offensichtlich dazu erwählt, außerhalb des neugierigen Blicks von Fledermaus und Nachtvogel gewisse Geschäfte zu erledigen. Und an ihrer Wohnungstür hatte sie mit Hilfe eines Birkenzweigs die Nachricht „Bitte nicht stören“ hinterlassen.
Eine Woche später. Beim ersten Wiegen stelle ich fest: Ingeborg liegt auch komplett anders in der Hand als ihr weitläufiger Vetter vom letzten Jahr. Da ist so eine gewisse Unerschrockenheit in ihrem Blick, die mir Respekt und Freude einflößt.
Noch eine Woche später. Und richtig: Ingeborg ist weder auf bestimmte Fütterungszeiten festzulegen noch bereit, regelmäßig ihr Körpergewicht preis zu geben. Sie pennt bis tief in die Nacht und nimmt ihre Mahlzeiten unbeobachtet vom Personal zu sich, wann immer es ihr beliebt. Am Morgen, wenn sie schläft, reinige ich beflissen gründlich ihre Toilette und räume das restlos leer geputzte Geschirr ab. Das alles kommt mir ziemlich bekannt vor. Teenies halt. Irgendwie wird es mir schon noch gelingen, Ingeborgs Herz zu erobern.
Zwei Wochen später. Ingeborg lässt sich ab und zu beobachten, so lange ich ihr Lieblingsessen serviere. Einmal durfte ich sie sogar wiegen, mit hoch zufrieden stellendem Ergebnis. Eidesstattlich habe ich ihr versichert, dieses hier nicht zu veröffentlichen. Sonst wäre es ganz schnell vorbei mit unserer Freundschaft.
Metereologischer Winteranfang. Ingeborg schläft. Gaaaaanz heimlich, verrate ich euch ganz unter uns, jetzt, da sie nicht zuhören kann, meinen Plan: Zum Frühjahr werde ich all mein Wildhüterinnen-Wissen in gartenbauliches Fingerspitzengefühl umwandeln. Der Garten wird noch unordentlicher als er eh schon ist. Wenn ich Ingeborg beweise, dass sie es nirgends besser haben kann, wird sie vielleicht bleiben. Und ich weiß: Igelinnen sind reviertreu. Mit ganz viel Glück wird sie mir im Sommer vielleicht sogar einen Blick auf die winzigen Enkel- äh – Igelchen gewähren….?
Empty Nest? – Nicht in Sicht.